HERZBERG MASCHINE
Das Foto entstand 1937, es ist das letzte Foto der durch den Naziterror versprengten Familie.
v.l.n.r. stehend:
Der Bruder Georg Chodziesner, Diplom-Ingenieur, flieht im August 1939 nach Großbritanien, wird dort nach Kriegseintritt als „enemy allien“ auf die Isle of Man interniert-, dann mit dem Schiff Dunera nach Australien verschickt. Er wird australischer Staatsangehöriger und stirbt 1981.
Gertrud Kolmar stirbt 1943 in Auschwitz.
Ihr Schwager Peter Wenzel, dessen Ehe mit Hilde Wenzel 1942 geschieden wurde, überlebt den Krieg in Berlin und kümmert sich ab 1945 aufopferungsvoll um das Erscheinen von Kolmars Werk. Er wandert 1952 nach Brasilen aus, wo er im Jahr 1961 stirbt.
Die Schwester Margot, Doktor der Zoologie, wandert 1938 nach Italien aus, flieht dann weiter nach Australien. Sie erliegt dort 1942 einem Herzleiden.
v.l.n.r. sitzend:
Hilde Wenzel flieht 1938 in die Schweiz. Unter widrigen Bedingungen, da ihr Aufenthaltstatus nicht gesichert ist und sie ihre Ausweisung und die ihrer Tochter fürchten muss, überlebt sie die Kriegszeit. Sie stirbt 1972 in der Schweiz.
Sabine Wenzel wächst in der Schweiz auf. Sie sieht dort 1938 letztmalig ihren Vater. Sie arbeitet in Tripolis, London, Paris. Als Mitarbeiterin der UNO führen sie Auslandseinsätze nach Rumänien, Nordkorea, Mauretanien, Burkina Faso. Nach der Pensionierung siedelt sie sich in Paraty, Brasilien an. Darum trägt sie jetzt den Vornamen Sabina.
Der Vater Ludwig Chodziesner wird anlässlich der „Reichskristallnacht“ im November 1938 für einige Tage im Gefängnis der Gemeinde Falkensee inhaftiert. Er muss danach das Haus und Grundstück in Finkenkrug verkaufen. Er zieht im Januar 1939 mit seiner Tochter Gertrud in eine Mietswohnung in der Speyrer Straße in Berlin Schöneberg. 1942 wird er nach Theresienstadt deportiert, wo er als einundachtzigjähriger im Februar 1943 stirbt.
Der Schwägerin Thea Chodziesner Galliner gelingt 1939 zusammen mit ihrem Sohn Wolfgang die Flucht nach Chile. Hier stirbt sie 1943.
Wolfgang Chodziesner kann erst im Jahr 1945 zu seinem Vater nach Australien reisen. Er stirbt 2018 in Melbourne.
Bayerisches Viertel inklusive Ecke Speyrer Straße um 1910
Nach der Enteignung ziehen Ludwig Chodziesner und seine Tochter in eine Mietswohnung in die Speyerer Straße Nummer 10. Die Wohnung, im Bayerischen Viertel des Stadtbezirks Schöneberg gelegen, hat viereinhalb Zimmer und einen Balkon. Während der Vater Freunde und Bekanntschaften in der neuen Umgebung findet und sein seit Jugendzeit schlafender Glaube nach einem Besuch der nahe gelegenen Synagoge in der Münchner Straße neu erweckt wird, fühlt sich seine Tochter Gertrud Kolmar entwurzelt und isoliert. Doch trotz aller Bedrängung und Unruhe durch die Untermieter und Lebensumstände findet Kolmar die Kraft, die Erzählung Susanna zu schreiben. Sie entsteht vom Dezember 1939 bis zum Februar 1941 und ist das letzte von Kolmar überlieferte dichterische Werk.
Die Anfangs unbeengten Wohnverhältnisse wandeln sich aber alsbald durch Zwangseinquartierungen weiterer Mieter in eine zwangsvolle Enge. Bis zu sieben Personen leben in der Wohnung. Vater und Tochter teilen sich einen Raum.
Kolmar erzählt in den Briefen an ihre Schwester nichts über die Schikanen des Naziregimes, wie die erzwungene Abgabe von Haushaltsgeräten, Schreibmaschinen und vielen anderen Dingen, nichts über die Anordnung zum Tragen des Judensterns in der Öffentlichkeit und der Kennzeichnungspflicht der Wohnungstür mit einem Judenstern. Auch finden sich in ihren Briefen keine Bemerkungen über die beginnenden und sich später ausweitenden Bombenangriffe auf Berlin.
Die letzten Berliner Adressbücher erscheinen für das Jahr 1943. Für das Jahr 1942 werden die immer noch im Haus wohnenden jüdischen Bewohner nicht mehr aufgelistet. Kontinuität für die „arischen“ Bewohner wird deutlich. Einer von ihnen mit dem Barsoi, der Kolmar an ihren Hund Flora erinnert. Das Haus Speyererstraße 10 wird im zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört.
Das Firmengelände von Siemens Plania in der Herzbergstraße um 1900. Rechts unten im Bild die späteren Epeco-Hallen.
Die Firma Epeco beginnt ihre Geschäftstätigkeit als „Erwin Erich Pappen-Groß-Handlung und Herstellung von Kartonagen aller Art“ im Jahr 1934 im Berliner Bezirk Friedrichshain. 1937 zieht die Firma in die Lichtenberger Herzbergstraße 127 um. Dort werden 2.100qm Fabrikations- Lager- und Büroräume angemietet. Die Firma hat zu diesem Zeitpunkt 28 Beschäftigte, darunter 20 männliche und weibliche Hilfskräfte. Der Betrieb ist Mitglied der Wirtschaftsgruppe Druck & Papier, Fachuntergruppe Verpackung. Die Firma benennt sich in „Epeco“ um, eine Phantasiebezeichnung gebildet aus Erich, Pröhl und Co. Erwin Erich und Paul Pröhl sind persönlich haftende Gesellschafter der Epeco.
Der Gründer des Unternehmens, Erwin Erich, wird am 19. Mai 1944 bei einem Bombenangriff getötet. Nach dem Krieg wird mitgeteilt, dass er nie NSDAP-Mitglied gewesen war. „Seine Frau, Johanna Erich, geb. Oesterreicher, ist Universalerbin und Mischling ersten Grades“.
Vielleicht hatte Kolmar also ein wenig Glück im Unglück und Unrecht der Zwangsarbeit und traf auf eine Betriebsführung, die ihre Zwangsarbeiter relativ anständig behandelte.
Die Wellpappenanlage befindet sich zu dieser Zeit (und von der Straßenseite aus betrachtet) in der ersten der Werkhallen im dritten Hinterhof der Herzbergstraße 127. In dieser Halle oder auf weiterer Geschäftsfläche stehen auch die Maschinen für das Zuschneiden, Rillen, Schlitzen, Bedrucken, Falten und Verkleben, also für die Weiterverarbeitung von Halbfabrikaten. Zum Einsatz kommen hier kleinere Maschinen. Die Aufgabe der Arbeiter besteht vor allem im Bestücken, dem Zu- und Wegbringen von Pappmaterial an den als Fertigungslinien aufgestellten Maschinen. Eine weitere Fläche, vielleicht auch eine eigene Halle, dient seinerzeit als Lager für Materialien und Fertigprodukte. Rechts von der ersten Halle befindet sich ein Kesselhaus samt Schornstein zur Erzeugung der für die Wellpappenfertigung notwendigen Wärme.
Fabrikhalle der Epeco im Jahr 2010
Im Jahr 1942 arbeitete bei der Epeco auch Regina Jonas als jüdische Zwangsarbeiterin. Die 1902 geborene Regina Jonas wird 1935 als weltweit erste Rabbinerin ordiniert. Erst 1972 erfolgt die Ordination der zweiten weiblichen Rabbinerin in den USA. Jonas wird im November 1942 mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert und im Oktober 1944 von dort nach Auschwitz-Birkenau gebracht, wo sie im Dezember umkommt. Im Nachlass von Regina Jonas befindet sich eine Bescheinigung der Epeco vom 5. Mai 1942, dass Regina Sara Jonas von 7-17 Uhr dort beschäftigt ist und daher nicht in der für Juden vorgesehenen Zeit einkaufen kann.
Und auch eine andere bedeutsame Person kreuzte in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Arbeitsortes den Lebensweg von Gertrud Kolmar. Im Vorderhaus der Herzbergstraße 127 lebte nachweisbar bis 1943 der Journalist Helmut Kindler. Kindler, nach dem Krieg Verleger (Kindler Verlag) und Gründer vieler Zeitschriften (unter anderem der BRAVO) arbeitete in der Nazizeit als Journalist. Zeitweise war er der Hausverwalter der Herzbergstraße 127, in der auch sein Vater Otto Kindler, preußischer Kriminalkommissar in Rente, lebte. Helmut Kindler war im Widerstand aktiv, versteckte als Wehrmachtsangehöriger in Warschau Waffen für den Aufstand, wurde von den Nazis über ein Jahr inhaftiert und entkam seiner Verurteilung und Hinrichtung nur durch glückliche Zufälle. Er überlebte das Kriegsende versteckt bei einem Juden. In seiner Autobiografie ist jedoch nichts über die Herzbergstraße zu finden. Wir wissen also nicht, ob sein Blick auf die Arbeiter – und damit vielleicht auch auf Kolmar ‑ fiel, die die Wohnbauten und ihre Höfe durchqueren mussten, um zu den Fabriken zu gelangen.
Max Weißflog, ehemaliger Technischer Leiter des VEB Verpackungsmittelwerke Berlin, spätestens ab 1971 auch für die Maschinen der Epeco zuständig, wird 1993 im Rahmen der Recherche zur Kolmar-Biographie von Frau Woltmann-Zeitler kontaktiert. Er sendet dieses Bild und schreibt: “Das Kreuz bezeichnet den Stapel Pappe, der schnellstens weggenommen werden musste, da sofort die nächsten Pappen kamen. Keine leichte Arbeit!
Hinter dieser Maschine stand ein großer Tisch, auf denen die geschnittenen Formate fielen und auch schnellstens von den Frauen weggenommen wurden.“
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Woltmann-Zeitler
Gertrud Kolmar schreibt in dem Brief vom 24.11.1940 an ihre Schwester:
Ich denke eben an Bosy... Es ist seltsam: er war für mich, seit ihr den Laden nicht mehr hattet, in eine so große Ferne gerückt, daß ich mir kaum vorstellen mag, er könnte in eine noch größere entrückt sein. Er ist so eins mit dem Laden für mich, daß es mir scheint, als sei der Laden erst jetzt - endgültig - gestorben ... der Laden, nicht er. - Ich weiß nicht, ob ich Dir begreiflich machen kann, was ich meine...
Kurt Bosy war Angestellter in der Buchhandlung von Hilde und Peter Wenzel. Er fiel im Juni 1940 in Frankreich.
Der schnelle Sieg über den "Erzfeind" Frankreich läßt selbst viele skeptische Deutsche auf eine nun fällige, neue Aufteilung der Welt hoffen. Hitlers Porpularität, der Nimbus seiner Unbesiegbarkeit sind jetzt am größten. Die gierige Hoffnung im Land ist riesig, die eigenen Opfer noch klein.
Peter Wenzel, Kurt Bosy und Hilde Wenzel in der Buchhandlung in der Grollmannstraße
Links: Vorder- und Rückseite des Fotos, welches die Mutter von Kurt Bosy an Peter Wenzel sendet
In ihrem Brief vom 14.7.1940 schreibt Gertrud Kolmar an ihre Schwester:
Ich genieße weiter meinen Sprachunterricht und habe letzthin wieder ein Gedicht gemacht, zum ersten Mal eins, das nicht bloß den Wert einer Kuriosität hat und nicht bloß wie das "Schnee und Glanz und Sonnenschein" einer berühmten Dichterin (kennst Du sie?) ist. Es heißt "Ha Zaw", "Die Kröte" - "Natürlich!" sagte meine Lehrerin, als ich den Titel nannte. Von einer Zeile behauptet sie, daß sie stilistisch ganz neuartig und "Baliks würdig" sei.
Von hebräischen Muttersprachlern bekam ich den Hinweis, dass "Zaw" /"Tsaw" in Deutsch "Schildkröte" bedeutet . Es war aber keine Fehlübersetzung von Kolmar oder ihrer Lehrerin, bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts findet sich die Bedeutung von Tsaw/Kröte in hebräischen Wörterbüchern, die Schildkröte hieß dort dann Tsaw-Schirion (eine Kröte mit Schild). Im Leben der hebräischen Sprache setzten sich diese Bedeutungen aber nicht durch. Ich bedanke mich bei Frau Dorit Tzoref Ashkenazi für ihre Recherche.